Therapie
Stille –
das letzte Abenteuer des modernen Menschen
„Ich sitze in der U-Bahn, morgendliches Gedrängel, kein Sitzplatz, die Gerüche steigen in meine Nase, unangenehmer Rauchgeruch. Die U-Bahn fährt los, Menschen in einem Wagen dicht gedrängt, lautstarkes Diskutieren. Beim Anfahren steigt mir jemand auf den Zeh, beim nächsten Bremsen am U-Bahnhof bekomme ich einen Ellbogen in den Magen, der rettende Blick nach oben, dem einzig freien Blickfeld… da winkt mir eine freundliche Dame vom Bildschirm runter und preist irgendwelche Kaltgetränke an… oh nein, nicht mal hier hat man seine visuelle Ruhe…“
Sturm für die Sinne
Das morgendliche U-Bahn-Fahren ist ein gewaltiger Sturm für die Sinne – visuell, auditiv, olfaktorisch, kinästhetisch – d.h. Augen, Ohren, Nase, Körper und Haut sind überlastet. Ein gutes Beispiel unseres modernen Lebens. Dass die Sinne überreizt sind, ist kein Wunder. Überreizung drückt sich auch im Verhalten der Menschen aus: buchstäblich „gereizt“, aggressiv, nervös, manche werden depressiv, weil sie sich selbst nicht mehr spüren können.
Freizeitstress
Daheim geht es dann mit Freizeitstress weiter: Es muss kicken. Und dabei meine ich nicht Adventure-Angebote. Es reichen schon die „normalen“ Alltags-Aktivitäten wie zwanghaft betriebener Sport, Kino, Konzert, oder auch Kunst und Kultur, ein Stadtbummel. Nicht zu vergessen das tägliche oft mehrstündige Fernsehprogramm. Und unser aller Ablenkungsprofi: das Handy. Stress wird es, wenn die Dinge aneinandergereiht ohne Pause und ohne tiefere Aufmerksamkeit passieren. Sich berieseln lassen, sich ablenken, möglichst viel erleben, dem unruhigen Geist Futter geben… ist das Leben?
Für viele ja. Und wenn sie einschlafen wollen, wird es schwierig. Da ist es so ruhig. Das wirkt irgendwie bedrohlich.
Im Endeffekt ist der viele Lärm, auch in Form von Aktivitäten, ein „Sich-Betäuben“. Aber was möchte „Mensch“ betäuben?
Hirnwellen im Fokus
Um der Frage der Betäubung nachzugehen, darf ich erst mal beleuchten, was in der Stille passieren kann. Die großen Meister des Yoga und der Kirche, aller spirituellen Richtungen, beschreiben die Stille als Möglichkeit, transzendentale Erlebnisse zu erfahren. Was bedeutet das? Einfach gesagt wird erst einmal der lärmende Müll aufgeräumt, die Gedanken nicht nur sortiert, sondern zur Ruhe gebracht. Physikalisch ausgedrückt sind Gedanken Wellen, die eine höhere oder niedrigere Frequenz haben, einen höheren und niedrigeren Ausschlag. Die New York Times veröffentlichte die Studie eines Mönchs, dessen Hirnströme während der Meditation verkabelt gemessen wurden, und man entdeckte fast keine Hirnströmungen, nicht mal eine ganz niedrige Frequenz der Hirnwellen mehr, sondern man sah ein kleines blaues Licht, groß wie eine Erbse, in seinem Hirn. Die Stille. Von dieser „blauen Perle“ berichten die Yogis schon seit Jahrtausenden.
Es geht also darum, die Hirnwellen zu beruhigen, den Gedankenfluss zu unterbrechen, die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten.
Die Mystiker – alte und moderne
Robert Kardinal Sarah aus Guinea in Afrika ist einer der Mystiker und aufstrebendes Licht der Katholischen Kirche, nach Rom berufen und heute dort Kardinalpräfekt der Katholischen Kirche. Er formuliert es sehr deutlich: „Man muss die Denkbarkeit zur Stille zwingen, die Unruhe des Herzens und den Tumult der Sorgen besänftigen und jede künstliche Ablenkung austilgen. Nichts lässt uns das Zuhören besser begreifen als der Zusammenhang von Stille und Hinhorchen… Die zuhörende Stille ist ein schweigendes Gespräch von Herz zu Herz.“
Gedanken betäuben?
Beim Betäuben geht es also darum, die schlechten oder die vielen Gedanken, die Unruhe des Herzens und die Sorgen nicht mehr spüren zu müssen. Die Yogis sprechen vom „Monkey mind“ – dem Affengeist, der es schlau, listig und findig immer wieder schafft, uns aus der Stille in die Gedanken und Sorgen zu ziehen, uns abzulenken von dem Kontakt zu uns selbst.
Verschwinden die Gedanken, wenn wir sie betäuben? Natürlich nicht, sie melden sich umso vehementer, oft nachts, in unangenehmer Form oder tagsüber mit Unruhezuständen und Konzentrationsschwierigkeiten.
Angst vor der Stille
Die Angst besteht darin, dass die Sorgen und Nöte unserer Seele „lauter“ werden, dass sich auf einmal Unangenehmes wie Wut, Trauer, Angst meldet, es uns überwältigt und wir damit nicht umgehen können. Manchmal sind es uralte Ängste, Panik, oder Verhaltensmuster, die sich erst einmal „bedrohlich“ anfühlen und auch körperlich bemerkbar machen können: Schweiß, erhöhter Herzschlag, Enge im Hals, Unruhe, rasende Gedanken oder Gedankenkarussel, Einschlaf- oder Durchschlafschwierigkeiten.
Beobachten
Im Yoga und auch in verschiedenen Therapieformen gibt es dafür das Instrument des Beobachtens, der Achtsamkeit. Warum beobachten? Weil es ein gutes Mittel ist, den Gedanken nicht so viel Macht und Aufmerksamkeit im menschlichen Körper-Geist-Seele-System zu geben, sondern die Aufmerksamkeit auf die Körperfunktionen und Gefühle zu lenken. Weil man damit übt, diesen unangenehmen Gedanken und Gefühlen einen Raum und einen Namen zu geben, die unterschiedlichen Stimmen der eigenen Seele zu hören, ohne dass es einen niederdrückt. Weil es einen Abstand schafft und man so besser den Kontakt zu sich selbst herstellen kann.
Übung macht den Meister
„Meister“ jahrtausende alter Traditionen wie Yoga, die heute in Meditationszentren (Ashrams) leben, müssen oft lachen, mit welchem Ehrgeiz die westlichen Menschen meditieren und erwarten, dass es gleich klappt. Nur so als Idee: Ein Jahr lang jeden Tag üben, kann einen ein bisschen eintauchen lassen in die mystische Welt der Seele.
Stille für die Gesundheit
Nicht nur Heiler und die Lehrer der Stille beschäftigen sich mit dem Thema „Stille“. Die Meditation, das Mittel schlechthin, um zur Stille zu gelangen, wurde jüngst wieder von amerikanischen und französischen Neurologen und Psychiatern untersucht, die herausfanden:
Meditation hat signifikante Wirkung auf Verbesserung von Depressionen und Angststörungen. Die Rückfallquote wurde drastisch reduziert.
Die Meditation stimuliert die Neuroplastizität des Gehirns, das heißt Gehirnareale werden signifikant zum Besseren umstrukturiert.
Stille und Zuhören
Wer mehr Übung mit der Stille hat, will sie nicht mehr missen, will diesen Kontakt in diesem geschützten, heiligen Raum haben, da, wo die Seele eine Stimme hat, da, wo die eigene Wahrheit lebt, da, wo die Seele und Gott zuhause sind.
Viele moderne und alte Mystiker wie Teresa von Ávila, Hildegard von Bingen und auch Meister Eckhart sprechen in der Stille vom Zuhören. Es ist das Hören der eigenen Seele, es ist manchmal die Verbindung mit einer höheren Energie, Gott, Göttlichkeit, Brahman, Allah, der Unendlichkeit, des Universums, wie auch immer diese höhere Energie genannt werden mag – die Transzendenz.
Das Instrument der Stille
Therapeuten, Gottesdiener, Yogalehrer, Meditationslehrer, TaiChi- oder QiGong-Lehrer und viele mehr arbeiten heute mit dem „Instrument der Stille“, denn sie führt zu uns selbst. Notwendig, um in dieser „reizüberflutenden“ Welt zurecht zu kommen. Denn nur da liegt die Möglichkeit, die innere Wahrheit zu spüren. Dort „innen“ ist eine Klarheit und Authentizität der Seele möglich, eine erfüllte Lebensführung mit der Fähigkeit, Entscheidungen für das eigene Leben zu treffen und den stimmigen Weg zu gehen, manchmal inspiriert von einer höheren Kraft.
Warum nicht dieses „letzte“ Abenteuer eingehen, sich in die Stille zu wagen und somit das eigene Leben authentisch und stimmig zu leben?
Quellen:
Robert Kardinal Sarah aus dem Buch
„Kraft der Stille – Gegen die Diktatur des Lärms“
Pater Anselm Grün „Das kleine Buch der Stille“
Hildegard von Bingen „Heilige Inspirationen“
Elizabeth Gilbert „Eat, pray, love“
„Die heilsame Kraft der Meditation“ (Sendung arte 2017)
www.neuropsychotherapist.com (Australia)